3. Ein Zauber, der alleine nicht wirkt?

Puh, der Zauberer hatte sie nicht entdeckt! Er drehte sich wieder dem großen Ei zu und überlegte laut weiter. „Wenn ich das Ei durchsichtig wie aus Glas zaubern könnte, dann müsste ich doch sehen, wer da drinnen sitzt?“ Ich werde es einmal mit einem Zauberspruch probieren: „Hokus, pokus, Zaubernas, du großes Ei, sei jetzt aus Glas!“ Graue und lilafarbene Blitze zuckten durch das Zimmer aber – es schwebten nur regenbogenfarbene Seifenblasen durch den Raum. „Schnippschnabelschnurz, das war der falsche Spruch, aber ich werde es gleich noch einmal versuchen! Ach, wie konnte ich auch meinen Zauberstab vergessen. Das ist sicher die Aufregung!“ Und schon schwang er den Zauberstab wild über seinem Kopf und rief: „Hokus, pokus, Zaubermaus, du Zauberküken, komm heraus!!!“ Es erklangen feine, zarte Glockenklänge, und durch den Raum sausten viele schwarz- weiß gestreifte Mäuse auf ihren schnellen Beinchen. Der Zauberer ließ traurig seinen Zauberstab sinken. „Ach was ist denn heute los mit mir, habe ich das Zaubern verlernt? Mäuse habe ich doch schon genug im Schloss, davon brauche ich nicht noch mehr. Wenn ich nur irgendjemanden wüsste, der mir helfen kann. Ich bin heute so zerstreut, weil ich so ungeduldig bin. Schon mein Zauberlehrmeister hat immer gesagt, dass man nicht zaubern kann, wenn man etwas nicht erwarten kann. Dann muss man sich Freunde dazu holen. Aber das ist ja gerade mein Problem, ich habe keine Freunde, weil sich alle vor mir fürchten. “ Er saß wie ein Häufchen Elend da vor dem großen Ei.
Da wagte sich Kasperl aus seinem Versteck und ging zögerlich auf den Zauberer zu. Seppel hielt die Luft an, was würde jetzt geschehen? „Darf ich mit dem Seppel hereinkommen, allmächtiger Zauberer Horakel?“ Mit einem Ruck drehte sich Horakel um und sah mit aufgerissenen Augen Kasperl und den langsam hervorschleichenden Seppel an. „Wie – Wo – Wann … Was macht ihr zwei denn hier in meinem Schloss? Ich will keinen sehen, ich bin sehr, sehr beschäftigt! Ja, und außerdem will ich hier alleine wohnen! Hinfort mit euch beiden!“
Kasperl aber meinte: „Sehr geschätzter Zauberer Horakel, wir haben gehört, dass du einen Freund suchst. Also wir zwei wären schon mal da! Wir würden gerne deine Freunde werden!“
Und Seppel flüsterte leise: „ Na ja, das kann ich von mir aber nicht so ganz sagen! Das könnte gefährlich werden für uns!“ Kasperl wurde aber immer mutiger und meinte: „Ich habe dich beim Zaubern beobachtet und wenn wir uns zu dir setzen dürften, dann kannst du dich vielleicht besser konzentrieren. Dann fallen dir sicher gleich die richtigen Worte ein.“ Der Zauberer dachte einen Augenblick nach und meinte dann: „ Na ja, aber was da aus dem Ei herauskommt gehört dann mir ganz alleine, das sage ich euch gleich einmal. Niemand darf es zum Freund haben, nur ich alleine!“
Kasperl überlegte: „Naja, jetzt warten wir erst einmal ab wer da drin sitzt! Vielleicht ist es ja ein gefährliches Krokodil mit scharfen Zähnen, das ganz hungrig ist?“ Aber der Zauberer hörte ihm schon nicht mehr zu. Er hatte sich gerade an einen ganz selten angewandten Zauberspruch erinnert. „Ich versuche es einmal damit! Aber ja, diesen Spruch müssen wir gemeinsam dreimal hintereinander sagen. Beim ersten Mal müssen wir sehr leise sprechen, beim zweiten Mal sehr laut und beim dritten Mal sehr langsam. Dazu müssen wir bei jeder Silbe in die Hände klatschen. Wie gut dass ihr jetzt da seid! „Hokus, pokus Gartenschlauch, ich streiche über meinen Bauch, dann springt das große Ei entzwei und gibt uns das Geheimnis frei!“ Die beiden Freunde taten, wie ihnen der Zauberer aufgetragen hatte. Sie sprachen den Zauberspruch zuerst leise, dann laut und zuletzt sehr langsam mit und klatschten bei jeder Silbe in die Hände. Der Zauberer war aufgesprungen und schwenkte seinen Zauberstab ausladend über ihre Köpfe hinweg. In diesem Moment hörten sie jedoch die Stimme der Großmutter: „Ja was macht ihr denn hier? Ich habe euch schon überall gesucht! Durch den ganzen Wald bin ich euch nachgelaufen und nun finde ich euch ausgerechnet im Zauberschloss! Sehr verehrter Herr Horakel, was machen Sie denn da für wilde Sachen?“ Kasperl lief auf die Großmutter zu und erklärte ihr rasch, was sich bisher zugetragen hatte. Als er fertig war, rief der Zauberer ungeduldig dazwischen: „Jetzt ist keine Zeit mehr für lange Gespräche! Liebste Großmutter, bitte helfen Sie uns doch jetzt auch mit!“
So schwang er abermals seinen Zauberstab durch die Luft und alle zusammen klatschten und sprachen. „Hokus, Pokus Gartenschlauch, ich streiche über meinen Bauch, dann springt das große Ei entzwei und gibt uns das Geheimnis frei!“
Danach herrschte einige Zeit Stille im Raum, alle Gesichter hatten sich zum Ei gedreht. War es nur eine Täuschung, oder hatte sich das Ei ein wenig bewegt? Aber ja, es begann wirklich ein wenig zu schaukeln, und tatsächlich, in der Mitte der Eierschale konnten sie einen feinen Riss sehen, der immer breiter wurde. Es war ein leises Klopfen aus dem Inneren zu hören. Seppel rutschte ganz nah zur Großmutter und nahm sie leicht beim Arm. Kasperl blickte ganz gespannt zum Zauberer, der vor Aufregung seinen Zauberstab in das Heu bohrte. Die Eierschale brach mit einem feinen Summen immer mehr auseinander. Schon blitzte ein scharfer, weißer Zahn hervor und dann so etwas wie eine rote Kralle. Das Bein streckte sich durch einen Spalt in der Schale und wurde länger und länger. Wie bei einem Frühstücksei hob sich nun der obere Teil in die Höhe und zum Vorschein kamen ein kleiner oranger Kopf und daran anschließend ein langer grüner Hals. Kasperl und der Zauberer liefen schnell hin, denn die restliche Eierschale drohte um zu kippen. Mit beiden Händen hielt Horakel die Schale fest und Kasperl streckte seine Hände nach dem bunten Tier aus um ihm dabei zu helfen, sich aus der Eierschale zu befreien. Endlich war es geschafft! Das Tier hatte einen blauen Körper, ähnlich einem Kamel, doch anders als diese Tiere besaß es viele gelbe Punkte. Das Ende des Körpers leuchtete in einem kräftigen schönen Magentarot. Auf den dünnen, hellbraunen Beinen konnte es noch nicht alleine stehen. Es wackelte wie ein kleines Fohlen nach der Geburt und ließ sich dann ins Heu fallen. Wie gut, dass Horakel vorsorglich schon so viel davon bereitgelegt hatte. Jetzt drehte es seinen Kopf den Freunden zu und blinzelte ihnen mit seinen blauen Augen zu. Nein, gefährlich wie ein Krokodil sah es nicht aus.
Die Großmutter packte die warme Schafwolldecke von zu Hause und deckte das kleine Wesen zu. „Das Tier braucht es jetzt warm und außerdem braucht es jetzt erst einmal etwas zu trinken! Also holt schnell etwas Milch und bringt sie in einem sauberen Eimer her!“ Horakel sauste los und holte aus dem Nebenraum alles, was die Großmutter angeschafft hatte.

Oh, wie schön, das Tier lag unter seiner Decke ganz zufrieden und schnaubte ein wenig, bevor es einschlief.